Zuletzt geändert am Freitag, dem 09. Februar 2007 um 21:11 Uhr    

Einführung ins Programm

Aufhorchen ließ die Musik in der Karfreitagsvesper am 7.April 1724 die versammelten Gottesdienstbesucher in der Leipziger Nicolaikirche. Johann Sebastian Bach, der seit dem Frühsommer 1723 als Thomaskantor und ‚director musices’ in Leipzig wirkte, führte seine für Leipziger Ohren ausgesprochen moderne und anspruchsvolle „Johannespassion“ auf.

Schon seit dem 4. Jahrhundert war es üblich, in der Karwoche die Leidensgeschichte Christi im Rahmen der Liturgie des Gottesdienstes mit verteilten Rollen zu lesen, bzw. auf unterschiedlichen Lektionstönen für die verschiedenen Personen zu singen.
Seit dem Mittelalter wurde es üblich, die "turbae", also die Worte des Passionsberichtes, die von mehreren gesprochen wurden, mehrstimmig zu singen. In der Zeit der Reformation wurde diese altkirchliche Tradition fortgesetzt, der lateinische Text wurde durch den deutschen ersetzt und die Rezitationstöne der lutherischen Liturgie angepasst. Häufig umrahmte man den Bibeltext mit einem Prolog, beispielsweise "Das Leiden unseres Herren Jesu Christi, wie uns das beschreibet der heilige Evangelist Johannes" und einer Epilogstrophe (z.B. "O hilf Christe, Gottes Sohn").

In Leipzig war diese Form der sogenannten Choralpassion bis 1766 feste liturgische Tradition; so wurde im Morgengottesdienst des Karfreitags die Johannespassion rezitiert. Hierfür versammelten sich ein Geistlicher, der unterste Diaconus, und acht Thomaner um das große Chorbuch im Chorraum. Der Diaconus sang die Partie des Evangelisten und die Worte Jesu, die Thomaner die weiteren Partien und die Turbae.

Im Verlauf des 17. Jahrhunderts haben fast alle bedeutenden Komponisten Beiträge zur Gattung der Choralpassion geleistet, wobei die Turbae, die im Mittelalter anfangs improvisiert und später in einem sehr einfachen, homophonen Satz geschrieben wurden. Im weiteren Verlauf der Musikgeschichte wurden sie immer kunstvoller im motettisch - kontrapunktischen Satz, geschmückt durch vielfältige, den Text ausdrückende musikalisch-rhetorische Figuren komponiert.
Später im 17. Jahrhundert wurden in die Passionsvertonungen Choräle z.T. für die Gemeinde und liedartige Arien auf frei gedichtete, betrachtende Texte eingefügt. Instrumentale Begleitung der bis dahin in der Regel a cappella gesungenen Passionsvertonungen wurde üblich. In dieser Entwicklung entsteht die sogenannte oratorische Passion mit der Übernahme der neueren Formen aus der italienischen Oper: Rezitativ und da capo - Arie. Gelegentlich wurde neben den Choraltexten und der lyrischen Dichtung auch der Bibeltext frei poetisiert.

Etwa ab 1700 wurde das gesamte Passionsgeschehen in der Art eines Librettos nachgedichtet, so beispielsweise in "Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus, aus den vier Evangelien in gebundener Rede vorgestellt" des Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes. Dieses Werk war durch Vertonungen von Reinhard Keiser, Georg Philipp Telemann, Georg Friedrich Händel und Johann Mattheson allgemein bekannt. Nahezu alle diese Vertonungen des Brockes-Textes entstanden in Hamburg, wo es ein blühendes emanzipiert - bürgerliches Musikleben gab. So wurden die Passionsoratorien neueren Stils in Hamburg sogar außerhalb der Kirchen auf Bühnen und in Privathäusern aufgeführt.

In Leipzig als einer nicht nur in kirchlichen Fragen sehr traditionsverhafteten Stadt fanden erste Aufführungen oratorischer Passionen erst 1717 in der Karfreitagsvesper, somit also im Gottesdienst, aber in einer der unbedeutenderen Kirchen Leipzigs, der Neukirche statt. 1721 beantragte Johann Kuhnau, Bachs Amtsvorgänger als Thomaskantor in Leipzig, eine oratorische Passion abwechselnd in der Karfreitagsvesper der Thomaskirche und der Nicolaikirche musizieren zu dürfen. Den dergestalt "aufgewerteten" Gottesdienst hielt jeweils der Superintendent.

Die Johannespassion ist Bachs erstes großangelegtes Werk für sein neues Leipziger Amt als Thomaskantor, das er Ende Mai 1723 antrat. "Sicher ist, dass dieses Werk in geistiger und formaler Hinsicht eine Frucht seines Köthener Schaffens (Bach war von 1717-23 dort Hofkapellmeister) ist: zum ersten Mal verwendete Bach hier in einem Kirchenwerk alle Feinheiten des konzertierenden Stils und der Instrumentation, die er in vielen Konzerten, Suiten und Sonaten entwickelt und erprobt hatte." (Nikolaus Harnoncourt).

Als textliche Grundlage verwendete Bach nicht eine Synopse aller vier Evangelien oder eine freie Nachdichtung des biblischen Textes, wie es ja für die ‚oratorische Passion’ seit 1700 üblich geworden war, sondern bei ihm bildet der lückenlose Text aus Johannes 18 und 19 das textliche Rückgrat seiner Passionsvertonung. In diesen Text wurden zwei Stellen aus dem Matthäusevangelium ("Da dachte Petrus an die Worte Jesu. Und ging hinaus und weinte bitterlich", "Und der Vorhang im Tempel ...") ergänzend eingefügt. Darüber hinaus setzte Bach mit der Verteilung von insgesamt 12 Chorälen eigene musikalisch-formale und theologische Akzente. Als Eingangschor wurde ein Text in starker Anlehnung an Psalm 8,2 geschaffen. Die übrigen Arientexte stammen fast alle aus dem Brockestext, die allerdings nur stark umgestaltet vertont wurden. Der Text des Chorals "Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, muß uns die Freiheit kommen" stammt aus einer anonym überlieferten Passion und wurde vor Bach bereits mehrfach vertont, aber jeweils als Arie, z.B. in einer Georg Friedrich Händel zugeschriebenen Passionsvertonung oder in einer Komposition von Johann Mattheson.

In der Johannespassion lassen sich verschiedene Baupläne erkennen, die je und je plausibel erscheinen. Friedrich Smend sah ein Zentrum im Choral "Durch dein Gefängnis", um den herum sich Chöre und Arien symmetrisch angeordnet erkennen, aber nicht hören lassen.
Ein einsichtiger, an alte Bibelauslegungen anknüpfender Vorschlag, von Martin Petzold gliedert die Passion in fünf, jeweils von einem (Gemeinde-) Choral beschlossene "actus":


  Eingangschor "Herr, unser Herrscher"
   
1. actus Nr.2-5     "HORTUS" (Jesu Gefangennahme)
2. actus Nr.6-14    "PONTIFICES" (Jesu vor den Hohenpriestern)

   
  Eingangschoral zum 2.Teil nach der Predigt
     
3. actus Nr.16-26  "PILATUS" (Jesus und Pilatus)
4. actus Nr.27-37  "CRUX" (Jesus am Kreuz)
5. actus Nr.38-40  "SEPULCHRUM" (Jesu Grablegung)

 
Zu solchen Überlegungen zur Großform der Johannespassion trägt bei, dass Bach insgesamt vier kurze Turbae auf der Grundlage desselben viertaktigen Modells vertont und acht weitere Chöre zu Paaren zusammenschließt, indem er die Musik zweimal (mit mehr oder weniger großen Veränderungen) mit verschiedenem Text verwendet:

-  "Wäre dieser nicht ein Übeltäter" &  "Wir dürfen niemand töten"
-  "Sei gegrüßet, lieber Judenkönig"  & "Schreibe nicht: der Judenkönig"
-  "Kreuzige, kreuzige"  & "Weg, weg mit dem, kreuzige"
-  "Wir haben ein Gesetz" & "Lässest du diesen los".

Die Verwandtschaft  der Texte der ersten drei Paare ist offenkundig, die Ausrufe des letzten Paares sind zwar nicht inhaltlich, aber hinsichtlich des Satzbaus und der Argumentation ähnlich.

Die Form der Chöre ist sehr vielfältig:
sie reicht von kurzen syllabisch-homophonen Rufen („Jesum von Nazareth") bis zu ausgedehnten Fugen („Wir haben ein Gesetz") und den dichten Kanonstrukturen des „Kreuzige“-Chores.
Von der Johannespassion sind vier Fassungen überliefert. Bach musste für die Wiederaufführungen 1725, 1728/32 und 1749 Änderungen vornehmen, wovon weder die Texte (wohl auf Anordnung der Geistlichkeit) noch die Instrumentation (wegen wechselnder Aufführungsbedingungen) ausgenommen blieben. Bach tauschte insbesondere Chöre und Arien aus, um in der 4. Fassung von 1749 die ursprüngliche Form des Werks wiederherzustellen.

Johann Sebastian Bachs Johannespassion erweist sich bezüglich der Intensität und Genauigkeit in der "Übersetzung" des Textes in die Musik, in den theologischen und musikalischen Akzenten durch die Verteilung der Arien und Choräle und in der überragenden Handhabung aller kompositorischen Mittel als anderen zeitgenössischen Passionsvertonungen weit überlegen.

                                                                                                                                                                Ingo Bredenbach