Johann Sebastian Bach - Johannespassion

Johannespassion



Gerlinde Sämann - Sopran / Barbara Stein - Alt / Reiner Geißdörfer - Tenor
Guillermo Anzorena - Bass, Jesus / Anselm Richter - Bass, Pilatus, Arien

Camerata viva Tübingen

Leitung: Ingo Bredenbach

Einführung ins Programm



                                                                                               Schwäbisches Tagblatt, 4. April 2007

Menschen am Kreuz

Der BachChor sang Bachs Johannespassion

TÜBINGEN (ach). Wie viel eine Aufführung über ein Werk „aussagt“, welche neuen Dimensionen sich erschließen, hängt nicht allein von musikalischen Qualitäten ab. In diesem Sinn gab der Tübinger BachChor unter Ingo Bredenbach, Rektor der Kirchenmusikhochschule, seinen Hörern am Palmsonntag in der ausverkauften Stiftskirche nicht nur viel zu hören.

Das 60-jährige Bestehen des Chors feierten seine Mitglieder mit Bachs Johannespassion. Manche Aufführung setzt hier auf reißerisch gehässige Kreuzigungschöre. Unweigerlich spaltet sich dann der Chor in zwei unvereinbare Pole: die „blutrünstigen jüdischen Massen“ und die innehaltenden Choraleinschübe des christlichen Individuums, das die Handlung kommentiert. Was als musikalischer Kontrast reizvoll sein kann, birgt nicht zuletzt das Risiko einer antisemitischen Eigendynamik. Hier unternahmen Bredenbach und BachChor einen Geniestreich, indem sie beide Pole einander annäherten, dialektisch aufeinander bezogen: Die Aufführung zeigte den Menschen in seiner Zerrissenheit zwischen Glauben, Verzweiflung und Gewalt, den Kreuzweg als unausweichlichen Prozess.

Schon im grandios elegischen Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ – mit Luft zwischen den Tönen „barock“ gesetzt – schien die Vergänglichkeit durch die Ritzen von Schöpfung und Tonsatz zu wehen. Unaufhaltsam rannen die Sechzehntel in den Streichern der Tübinger Camerata viva (Konzertmeister Georg Eckle) dahin. Der BachChor verknüpfte klare Tonge-bung, rhythmisch exakte Textartikulation und eine wehmütige Grundstimmung, so dass selbst die vehementen „Kreuzige!“-Chöre nicht zum bloßen Hagelfeuer brutal zuckender Konsonanten wurden. Auch die Choräle waren direkt involviert ins dramatische Passionsgeschehen, situativ gefärbt bis hin zum gewagten ‚Hohngelächter', das sich bei „Christus, der uns selig macht“ in den Gesang mischte. Ein Meisterwerk aber war der Chorsatz „Lasset uns den (Rock) nicht zerteilen“ mit seinem akkuraten Staccato und unnachgiebig „tackernden“ Achteln: die emsige Geschäftigkeit der Leichenfledderer.

Tenor Reiner Geißdörfer zog in der zehrenden Evangelisten-Partie einen kraftvollen roten Faden durch die Aufführung. Vorbildlich bereitete er die Einsätze von Jesus (Guillermo Anzorena) und Pilatus (Anselm Richter) vor (dazu Chortenor Nickel Sindek als „Diener“). Sichere Höhe und langen Atem bewies er in „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ – mit ihren endlosen Bögen eine der kompromisslosesten Bach-Arien. Sopranistin Gerlinde Sämann bezauberte in „Zerfließe, mein Herze“ (Gefion Landgraf-Mauz, Flöte; Irene Göser-Streicher, Englischhorn) durch zentriert glasklare Töne, während Altistin Barbara Stein „Es ist vollbracht“ (nicht ganz intonationsideal mit einer Bratsche statt der Gambe besetzt) mit herber Note abdunkelte. Anselm Richter brachte in seinen Bass-Arien einen milden, weichen Ton ein – wenn auch bei „Mein teurer Heiland“ etwas zu breit und wuchtig gegenüber dem schlank geführten Continuo. Fazit: Eine Aufführung mit Charakter und eigenem Gesicht.





                                                                                   Reutlinger Generalanzeiger, 4. April 2007

Konzert - BachChor singt Bachs Johannespassion

Vertonter Leidensweg

TÜBINGEN. Nach dem  machtvoll und prächtig ins Kirchenschiff aufsteigenden Fortissimo-Choral »Herr Jesu Christ, erhöre mich, dich will ich preisen ewiglich«, beschlossen Glockengeläut und atemlose Stille in der gut gefüllten Stiftskirche eine beeindruckende Aufführung der Johannespassion – bevor dann der Applaus losprasselte. Unter der Leitung von Ingo Bredenbach führten BachChor, Camerata viva sowie Gesangs- und Instrumentalsolisten Johann Sebastian Bachs teilweise hochdramatisches  Oratorium auf.  Vor allem  dem Chor war zu danken,  dass auf dem Fundament  einer perfekten Einstudierung eine eindringliche und geschlossene Interpretation gelang.

Schien die Harmonie zu Beginn des Eingangschores »Herr, unser Herrscher« noch etwas fahrig, so rundete sich bereits bei dessen Wiederholung der von kultivierter, warmer Tonfärbung bestimmte Gesamtklang des sehr großen Chores. Von ausgesuchter Schönheit waren die Sopran-Spitzentöne. Die zahlenmäßige Überlegenheit der Frauenstimmen beeinträchtigte die Balance kaum; nur bei diversen Fugen hätte man sich mehr Bass-Volumen gewünscht. Besonders bei »Wir haben ein Gesetz« und bei dem grandios komponierten Satz »Ruht wohl«, den Bredenbach entgegen der üblichen Innigkeit einem Triumphgesang gleich vortragen ließ.

Bei den Turba-Chören, in denen sich die aufgebrachte Menge artikuliert, setzte er hingegen weniger auf Heftigkeit als auf die Präzision der Struktur, worin ihm die Choristen hervorragend folgten. Befremdlich war allerdings, wie Bredenbach die Choräle in ihre Worte, ja Silben zerschnitt und teilweise die einzelnen Töne mit Crescendo-Decrescendo gegeneinander absetzte. Was eigentlich wie ein Kirchenlied klingen sollte, wirkte dadurch künstlich.

Unterschiedliche Solisten

Unter den Solisten ragte Reiner Geißdörfer mit seinem hellen Verkündigungs-Tenor als Evangelist heraus. Mit einer Stimme voll schlanker Zartheit erfreute die blinde Sopranistin Gerlinde Sämann. Guillermo Anzorena sang, große Ruhe ausströmend, die Basspartie des Jesus und Anselm Richter etwas zu forciert den Pilatus und die Bassarien. Einen schlechten Tag hatte offenkundig die Altistin Barbara Stein erwischt; sie sang zu leise und mit argem Vibrato, und die berühmte Gamben-Arie »Es ist vollbracht« ging dabei leider unter – krankt zusätzlich daran, dass statt der Gambe eine unsauber gespielte Bratsche begleitete.

Das Orchester, die Tübinger Camerata viva, verstärkt durch Bläsersolisten, war ein im Großen und Ganzen verlässlicher und klangschöner Begleiter. Die Orgel spielte versiert Evelyn Laib. (can)

                                                                                                             
Veranstaltungsort: Stiftskirche Tübingen | Datum: 01.04.2007